El Silbo
Wie verständigt man sich über große Entfernungen, wenn es weder Telefon noch Internet gibt, keine Infrastruktur vorhanden ist und der Fußweg beschwerlich und aufwändig ist? Genau vor dieses Problem sahen sich die Menschen von La Gomera gestellt. Unwegsame Schluchten, dichte Urwälder und schroffe Felsen erschwerten die Kommunikation zwischen verschiedenen Orten bis hin zur Unmöglichkeit. El Silbo hieß die Lösung, die sich die Gomeros einfallen ließen bzw. die sie von marokkanischen Berbern übernahmen. Das Wort »El Silbo« selbst ist allerdings weder berberisch noch gomerisch.
Es kommt vielmehr von dem spanischen Wort für pfeifen, »silbar«, und genau dies war auch die Methode, mit der die Gomeros ihr Verständigungsproblem lösen sollten. Bei El Silbo handelt es sich um eine Pfeifsprache, wie sie weltweit an dutzenden von Orten entwickelt wurde. Keine Pfeifsprache kommt jedoch an den Grad der Entwicklung von »El Silbo« heran. Mit vier Konsonanten und vier Vokalen ist ein erfahrener »Silbador«, ein Pfeifer, in der Lage, bis zu 4.000 verschiedene Worte zu pfeifen. Seine Pfiffe können dabei Distanzen von mehreren Kilometern überwinden.
Die Pfeifsprache der Gomeros
La Gomera ist die Heimat einer ganz besonderen kulturellen Überlieferung der Kanaren: El Silbo, eine Sprache, die statt Worte zu benutzen, mit Pfiffen auskommt. Dementsprechend kommt der Name dieser Pfeifsprache auch von »silbar«, dem spanischen Wort für »pfeifen«. Einst war El Silbo auch auf Teneriffa und El Hierro heimisch, heute existiert die Pfeifsprache jedoch nur noch auf La Gomera, wo sie seit einigen Jahren auch Pflichtfach in der Schule ist. Außerhalb der Schule trifft man die Pfiffe vor allem noch im Rahmen der hiesigen Fiestas an, wo es mitunter regelrechte El Silbo-Wettbewerbe gibt.
El Silbo ist dabei keineswegs die einzige Pfeifsprache auf der Welt. Es wird vielmehr angenommen, dass es weltweit ungefähr 60 verschiedene Pfeifsprachen gibt, unter anderem in Mexiko, China, der Türkei, den Pyrenäen und in Marokko. Von dort, genauer gesagt aus dem Atlas-Gebirge, scheint auch El Silbo ursprünglich zu stammen.
Doch auch bei 60 weiteren Pfeifsprachen – viele von ihnen sind vom Aussterben bedroht – ist El Silbo immer noch etwas besonderes. Laut UNESCO handelt es sich bei El Silbo um die einzige voll entwickelte Pfeifsprache weltweit. Geübte »Silbadores« (Pfeifer) können gar regelrechte Gespräche über mehrere Minuten miteinander führen. Seit 2009 gilt El Silbo dementsprechend auch als UNESCO-Weltkulturerbe. El Silbo ist heute die am besten erforschte Pfeifsprache der Welt.
So zeigen jüngste Forschungsergebnisse, dass die Pfiffe bei geübten »Silbadores« das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte aktivieren, während bei anderen Menschen die entsprechenden Gehirnregionen nicht reagieren. Dies zeigt zum einen, dass das Sprachzentrum nicht nur Worte verarbeiten kann und zum anderen, dass El Silbo wie eine echte Sprache wirkt.
Praktisch ist El Silbo dabei nicht allein für die Überbrückung weiter Distanzen – ein solcher Pfiff trägt wesentlich weiter als ein simpler Schrei, El Silbo gilt als die lauteste Kommunikationsform, die ohne Hilfsmittel auskommt – sondern auch für andere Zwecke. So nutzten im Spanischen Bürgerkrieg beide Seiten »Silbadores« zur Übermittlung von Informationen.
Die Technik
Das Pfeifen selbst ist kein Hexenwerk. Man nimmt den Zeige- und den Mittelfinger, krümmt sie zu einem spitzen Winkel und legt sie an die Lippen an. Danach biegt man die Zunge nach hinten, während man die Luft aus dem Mund stößt und die Lippen entweder spitzt oder in die Breite zieht. Mit der anderen Hand kann man derweil die Richtung des Schalls lenken. Voraussetzung für das »Sprechen« von El Silbo ist jedoch, dass man noch alle Zähne hat.
In Abhängigkeit von Tonhöhe und -länge unterscheidet man die einzelnen Silben voneinander, mehrere Silben ergeben ein Wort. El Silbo ist dabei keine eigenständige Sprache, sondern die Übertragung des Spanischen (und bis zur Ankunft der Spanier der Sprache der Ureinwohner) in Pfeiftöne. Den »Silbadores« (Pfeifern) stehen hierzu vier Vokale (a, e, i, o) und vier (ch, k, y, g) Konsonanten zur Verfügung. Diese können sie zu bis zu 4.000 verschiedenen Worten kombinieren. Der konkrete Sinn ergibt sich jedoch häufig erst aus dem Kontext und es verlangt eine besondere Übung, die feinen Nuancen zu erkennen. Bis vor wenigen Jahren ging man noch davon aus, dass El Silbo nur über zwei Vokale verfüge. Erst jüngste Forschungen haben dies revidiert.
Die Lautstärke eines solchen Pfiffs kann bis zu 100 Dezibel erreichen und je nach Windrichtung kann ein Piff Distanzen von bis zu 8 Kilometern überwinden. Über einige wenige Stationen kann so die gesamte Insel innerhalb kürzester Zeit erreicht werden. So wie das Spanische in El Silbo übertragen wird, kann übrigens theoretisch auch das Deutsche in die Pfeifsprache übertragen werden.
Der Ursprung der Sprache
Lange Zeit dachte man, die gomerische Pfeifsprache sei erst nach der Eroberung La Gomeras durch die Spanier entstanden. Die spanischen Eroberer hätten demnach aufständischen Gomeros zur Strafe die Zunge abgeschnitten. So ihrer Sprache beraubt, hätten diese notgedrungen El Silbo entwickelt, um sich auf diese Weise unter einander zu verständigen. Heute geht man jedoch davon aus, dass El Silbo bereits vor der Ankunft der Spanier auf den Kanaren im Gebrauch war. So berichten bereits in dem aus dem Jahr 1413 stammenden Manuskript »Le Canarien« zwei französische Missionare von einem Stamm, der nur mit den Lippen spreche.
El Silbo wurde wohl entwickelt, um sich in dem unwegsamen, dünn besiedelten Terrain auch über größere Distanzen hinweg verständigen zu können. Die Pfeifsprache wurde dabei wohl nicht erst auf La Gomera geschaffen. So gibt es Berber im marokkanischen Atlas-Gebirge, die sich ebenfalls mittels Pfiffen verständigen. Angesichts nachweislicher Kontakte zwischen den Kanarischen Inseln und den Berbern Nordafrikas – die Ureinwohner der Inseln sind mit großer Wahrscheinlichkeit Nachkommen berberischer Einwanderer – gilt es deshalb heute als wahrscheinlich, dass die Pfeifsprache von den Berbern auf die Kanaren gebracht wurde.
Die Sprache heute
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein war El Silbo auf La Gomera weit verbreitet und im Grunde allgemein gebräuchlich. Die Verbesserung der Infrastruktur und das Aufkommen des Telefons führten jedoch dazu, dass schon bald nur noch wenige – und zumeist die Älteren – die Pfeifsprache beherrschten. Auch die Landflucht der Jugend trug zu dieser Entwicklung bei. In den Städten mit ihren kurzen Distanzen und ihrer guten Infrastruktur war der Gebrauch von El Silbo in geringerem Maße notwendig – und auf Grund des städtischen Lärms auch in geringerem Maße möglich – als in den einsamen Schluchten des Inselinneren. El Silbo drohte deshalb das Aussterben.
Die UNESCO nahm die gomerische Pfeifsprache daraufhin 1982 in die Liste der erhaltenswerten Kulturgüter auf. Die gomerische Inselregierung führte El Silbo als Wahlfach an Schulen La Gomeras ein, 1999 wurde es schließlich zum Pflichtfach. Einmal wöchentlich haben die Kinder seither El Silbo. Zunächst versuchen sie, einzelne Töne richtig zu treffen, später sollen sie dann auch ihren Namen und ganze Sätze pfeifen können.
Seit 2005 steht am Mirador de Igualero eine Skulptur zu Ehren der Pfeifsprache. 2009 erfolgte die Aufnahme El Silbos in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO. Im selben Jahr erkannte die EU El Silbo offiziell als Sprache an. Beide Entscheidungen hatten Fördergelder zum Erhalt der Sprache zur Folge. Von allen spanischen Bewerbungen für das UNESCO-Weltkulturerbe 2009 war allein die Bewerbung von El Silbo erfolgreich. Für den Alltag der Menschen hat die Sprache zwar weitgehend an Bedeutung verloren, bei Fiestas findet sie jedoch noch immer rege Verwendung. So finden in Agulo jedes Jahr während der Fiesta de los Piques in der zweiten Junihälfte Streitgespräche in El Silbo statt.